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Mehr Personal für die Pflege – Der Markt wird es nicht richten

Kurz vor Ende des Bundestagswahlkampfes ist die Pflegepolitik in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Seitdem wird in Talkshows und Zeitungsartikeln über die Abwendung eines Pflegenotstands in der Altenpflege debattiert. Diese Debatte ist zu begrüßen, doch jetzt ist die Politik mit der Einleitung von Sofortmaßnahmen gefordert.

Schon in den letzten Jahren konnte ein bescheidener Personalaufwuchs den gestiegenen Pflegebedarf in den stationären Pflegeeinrichtungen nur teilweise kompensieren. Verschlechterte Betreuungsrelationen und eine sinkende Fachkraftquote weisen auf steigende Belastungen für die Beschäftigten und Gefahren für die Pflegequalität hin. Ausdruck dieser Belastungen sind eine hohe Fluktuationsrate, ein früher Berufsausstieg sowie eine hohe Prävalenz psychischer Erkrankungen von Beschäftigten. Die Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs erhöht die Anforderungen an die Beschäftigten noch einmal zusätzlich.

Aus internationalen Erfahrungen wissen wir, dass durch die Neueinstellung von Pflegefachkräften positive Effekte auf die Pflegequalität entstehen. Umgekehrt heißt dies, dass sinkende Fachkraftquoten die Qualität der Pflege verschlechtern und damit die Bewohnerinnen und Bewohner gefährden. Eine fachlich hochwertige Versorgung setzt daher die Vorgabe einer ambitionierten Fachkraftquote voraus. Grundsätzlich ist in diesem Zusammenhang zu begrüßen, dass der Gesetzgeber erstmals die Entwicklung und Erprobung eines wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs in Pflegeeinrichtungen vorgeschrieben hat. Auch in der ambulanten Pflege sollen solche Personalstandards entwickelt werden. Allein die Entwicklung eines wissenschaftlich validierten Verfahrens zur Personalbemessung wird jedoch weder die Personalausstattung erhöhen noch die Pflegequalität verbessern. Dazu müssten die zuständigen Behörden in den Bundesländern dazu verpflichtet werden, die Einhaltung des geforderten Personalbedarfs zu überprüfen und ggf. auch zu sanktionieren. Darüber hinaus müssten verschärfte Standards in der Personalbemessung daher hinreichend Berücksichtigung in den Pflegesatzverhandlungen finden. Letztlich ist die Einheitlichkeit der Umsetzung in den Bundesländern eine wichtige Voraussetzung für die Festlegung von Mindeststandards zur Personalbemessung, um den derzeitigen sachlich nicht zu rechtfertigenden „Flickenteppich“ von landesgesetzlichen Reglungen künftig zu verhindern.

Ausgesprochen problematisch ist aus unserer Sicht jedoch, dass selbst bei einem fristgerechten Abschluss des Verfahrens ein System zur Personalbemessung erst am 30. Juni 2020 vorliegen wird. Dieser lange Übergangszeitraum ist vor dem Hintergrund der Personalsituation in den Pflegeeinrichtungen und Pflegediensten, der damit verbundenen Belastungen für die Pflegekräfte und der resultierenden Gefährdung der Pflegequalität nicht akzeptabel. Daher schlagen wir vor, dass der volkswirtschaftlich unsinnige Pflegevorsorgefonds in einen Pflegepersonalfonds umgewidmet wird.

Der Pflegepersonalfonds sollte aus unserer Sicht im Übergangszeitraum bis zum 30. Juni 2020 die Finanzierung für nachweisbar nach dem 1. Januar 2016 neu eingestelltes Personal in der direkten Pflege übernehmen. Voraussetzung ist, dass die in der Heimpersonalverordnung geforderte Fachkraftquote von 50 Prozent erfüllt wird. Nach Ende des Übergangszeitraums und nach der Etablierung eines wissenschaftlich fundierten Systems der Personalbemessung sollte der Pflegepersonalfonds ab Juli 2020 den sicherlich auch dann noch notwendigen Ausbau der Personalausstattung zumindest in Teilen subventionieren.

Die Einrichtung des Pflegepersonalfonds würde ein deutliches Signal senden, dass der Finanzierung einer hinreichenden Personalausstattung in der Pflege eine hohe gesellschaftliche Priorität zukommt, was wiederum einen positiven Effekt auf die Steigerung der Attraktivität der Pflegeberufe mit sich bringen dürfte. Zudem würden die Träger von Pflegeeinrichtungen und Pflegediensten finanziellen Spielraum gewinnen, um eine ohnehin dringend notwendige Verbesserung der Gehälter in der Altenpflege finanzieren zu können. Bessere Arbeitsbedingungen und eine bessere Bezahlung sind wesentliche Voraussetzungen, damit der Pflegeberuf nicht nur Berufsanfänger und Berufsanfängerinnen attraktiv bleibt. Diese Voraussetzungen müssen außerdem erfüllt werden, damit qualifizierte Fachkräfte ihren Beruf weiterhin ausüben können und wollen.

Text: Prof. Dr. Stefan Greß und Prof. Dr. Klaus Stegmüller, Hochschule Fulda

www.hs-fulda.de

Bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen

Wir fordern:

  • Wertschätzung und Anerkennung für die Beschäftigten
  • Attraktivere Arbeitsbedingungen und tarifliche Bezahlung
  • Investition in gut ausgebildete Fachkräfte
  • Pflege braucht Nachwuchs, auch Männer sind gezielt anzusprechen

Humanzentrierte Arbeitsgestaltung statt prekärer Perspektive

Zentrale Kernthesen vorweg:

1.       Mehr Wertschätzung für beruflich Pflegende ist dringend notwendig. Wertschätzung darf jedoch nicht zum berufspolitischen Fluchtpunkt und zum Ersatz für ein Engagement um bessere Arbeitsbedingungen auf betrieblicher Ebene werden.

2.       Berufliche Pflege ist nicht gleich berufliche Pflege – Unterschiede zwischen Berufsfeldern sowie Qualifikationsstufen müssen stärker berücksichtigt werden. Berufliche Pflege in der Altenhilfe zeichnet sich durch besondere Rahmenbedingungen, Risiken und Gestaltungsherausforderungen aus. Trotz Fachkräftemangels droht ihr eine Abwärtsspirale bei Einkommen und Arbeitsbedingungen.

3.       Berufliche Pflege bietet Perspektiven, ist für viele Beschäftigte sinnstiftend und durch ihr hohes Engagement geprägt. Durch einseitige Zuschreibungen wie „Prekarisierung“ oder „Deprofessionalisierung“ und eine skandalisierende Medienberichterstattung geraten Motivation der Beschäftigten und positive Facetten der Arbeit in den Hintergrund. Dies wird den Beschäftigten nicht gerecht und verzerrt den Blick für Gestaltungsherausforderungen und -optionen.

 

Die Basis: Wohlfahrts-, Leistungs-, Berufe- und Qualifikationsmix

Die institutionelle Basis beruflicher Pflege ist in Deutschland ein Träger- und Wohlfahrtsmix: Freigemeinnützige, private und öffentliche Träger erbringen häusliche, stationäre oder teilstationäre Pflegeleistungen. Von den rund 12.300 ambulanten Pflegediensten in Deutschland entfallen derzeit rund 62% auf private Anbieter, 37% auf freigemeinnützige sowie lediglich 1% auf öffentliche Anbieter. Ein wenig anders stellt sich die Trägerstruktur in der stationären und teilstationären Altenhilfe dar: Von den rund 12.400 Pflegeheimen sind derzeit 55% in freigemeinnütziger, 40% in privater und 5% in öffentlicher Trägerschaft. In ambulanten Pflegeinrichtungen sind 221.000 beruflich Pflegende (2/3 Fachkräfte), in Pflegeheimen rund 435.000 beruflich Pflegende (ca. 1 /2 Fachkräfte) tätig.

Berufliche Pflege integriert unterschiedliche Berufe und Qualifikationsniveaus: Hierzu zählen der Beruf „Altenpflege“ ebenso, wie die „Gesundheits- und Krankenpflege“, staatlich anerkannte „Altenpflege-/Gesundheits- und Krankenpflegehelfer“ oder „Helfer in der Altenpflege“. Neben dreijährigen Ausbildungsgängen qualifizieren auch Studium, zweijährige, einjährige oder kürzere Qualifizierungen zur Arbeit in der Pflege. Berufliche Pflege hat eine wichtige Scharnierfunktion – zu anderen Gesundheitsfachberufen, zu pflegenden Angehörigen sowie zur ehrenamtlichen Arbeit.    

Hohe Entwicklungsdynamik mit ambivalenten Perspektiven

Berufliche Pflege im Geltungsbereich des SGB XI durchläuft seit vielen Jahren einen dynamischen Entwicklungsprozess, der sich in veränderten Anbieter- und Trägerstrukturen, neuen Organisationsformen, neuen kooperierenden Berufen und Kompetenzprofilen (z.B. „Betreuungsassistenten/Demenzbegleiter“ nach § 87b Abs. 3 SGB XI) äußert. Der Bedeutungsgewinn privater Anbieter im Pflegemarkt spielt ebenso eine Rolle wie eine zunehmende Marktkonzentration sowie eine Markterschließung durch internationale Pflegekonzerne. Zudem haben neue Organisationsformen für Pflegeleistungen in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen, z.B. Betreutes Wohnen in räumlicher/organisatorischer Kombination mit Pflegeheimen oder ambulanten Pflegediensten oder sog. Demenz-Wohngemeinschaften. Gemeinsam ist ihnen, dass sie auf Alltagskultur, Teilhabe und Ge­meinschaft trotz Pflegebedürftigkeit zielen. Nicht nur die institutionelle Basis, sondern auch die Finanzierung von Pflegeleistungen und Pflegearbeit unterliegt erheblichen Umbrüchen. Anbieter konkurrieren vor Ort teils ruinös um Preise, und Insolvenzen im Pflegemarkt sind keine Seltenheit mehr. Der Wettbewerb führt vielerorts längst zu einer Abwärtsspirale bei Qualität, Arbeitsbedingungen und Einkommen.

Während einerseits der „Wirtschaftsfaktor Pflege“ betont wird, befürchten Kritiker eine weitere Erosion gesellschaftlicher Daseinsvorsorge. Den Fachkräfte- und Wachstumsprognosen wird eine weitere „Ökonomisierung“ und „Vermarktlichung“ beruflicher Pflege und Pflegeleistungen gegenübergestellt, statt „Jobmotor“ wird die „Krise der Arbeit“ diagnostiziert. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung über Ursachen wird – neben der allgemeinen Ressourcenknappheit ­–  mal ein staatliches Steuerungsdefizit, mal ein Organisations- und Managementversagen auf betrieblicher Ebene betont.

Unstrittig ist, dass berufliche Pflege in ein sich dynamisch veränderndes Umfeld eingebettet ist, durch dieses beeinflusst wird und hier selbst neue Impulse setzen kann – mit neuen Perspektiven und Risiken gleichermaßen.

Arbeitswelt Pflege -  Besser als ihr Ruf, aber mit vielen Widersprüchen!

·         Berufliche Pflege ist weiblich dominierte Erwerbsarbeit, rund 85% der Beschäftigten sind Frauen. In der ambulanten Altenhilfe ist die Mehrheit der Beschäftigten (70%) in Teilzeitarbeit tätig, wobei in den letzten Jahren starke Anstiege sowohl in der Teilzeit- als auch in der Vollzeitbeschäftigung zu beobachten waren. In der stationären Pflege arbeiten rund 1/3 der Beschäftigten in Vollzeit, 2/3 in Teilzeit. Hier ist der Zuwachs an Teilzeitbeschäftigten insbesondere auf einen Zuwachs im Bereich reduzierter Vollzeittätigkeit zurückzuführen. Im Vergleich, z.B. zur beruflichen Pflege im Krankenhaus, ist die befristete Beschäftigung im Berufsfeld „Altenpfleger/-in“ häufiger. Besonders betroffen sind die Helferqualifikationen.

·         Pflege in der Altenhilfe ist mit Blick auf ihre Einkommenssituation sicherlich nicht auf Rosen gebettet, allerdings auch nicht so schlecht, wie vielfach angenommen. Problematisch ist hingegen, dass rund 60% der Betriebe und 37% der Beschäftigten derzeit keinem Tarifabschluss oder Arbeitsvertragsrichtlinie (AVR bei kirchlichen Trägern) unterliegen. Auf Ebene ausgewählter Berufe zeigt sich, dass die Pflegeberufe der Altenhilfe sich gegenüber den Pflegeberufen im Krankenhaussektor durch eine deutlich geringere Tarifbindung auszeichnen. Im Vergleich mit anderen Gesundheitsberufen realisierte die Altenhilfe in den vergangenen Jahren deutlich niedrigere Lohnzuwächse.

·         Der Gender Pay Gap zeigt sich auch in dem Frauenberuf Pflege: So verdienen Frauen in der Berufsgruppe „Sozialarbeiter und -pfleger“ rund 17,4% weniger als ihre männlichen Kollegen, Tendenz steigend. Insgesamt fallen die geschlechtsspezifischen Lohndifferenzen im Vergleich mit der Gesamtwirtschaft jedoch geringer aus.

·         Die Beschäftigungssituation beruflich Pflegender ist nicht per se prekär, sondern muss vor dem Hintergrund der individuellen Lebenssituation bewertet werden. Berufsbiographische Risiken entstehen vor allem aus der Kombination niedriger Qualifikationen, reduzierten Arbeitszeiten und einem Lohngefüge, das auch bei Fort- und Weiterbildung nur unzureichende Einkommenszuwächse ermöglicht. 

·         Arbeitsprozesse, die der Fachlichkeit nicht gerecht werden und Unsicherheiten darüber, wie der Qualifikationsmix auf betrieblicher Ebene sinnvoll gestaltet werden kann, befördern Sorgen um eine Deprofessionalisierung beruflich Pflegender. Insbesondere Helferqualifikationen und niedrigschwellige Berufseinstiege stehen mit Blick auf ihre Fachlichkeit immer mal wieder zur Disposition. Niedrigschwellige Qualifikationen können jedoch wichtige Einstiege in das Berufsfeld eröffnen. Voraussetzung ist jedoch, dass (arbeitsplatznahe) Anschlussqualifizierungen möglich sind, die sich für Beschäftigte wie Betriebe gleichermaßen lohnen. Akademische Qualifikationen sind derzeit primär in Leitungsfunktionen vorhanden, vielfach fokussiert auf Krankenhäuser. Unklar ist, wie akademisch qualifizierte Pflegende zur Weiterentwicklung der Altenhilfe konkret beitragen können.

Vorliegende Forschungsarbeiten konstatieren für die berufliche Pflege im internationalen Vergleich eine hohe Arbeitsbelastung und unzureichende Arbeitsbedingungen. Prozessanforderungen statt personenbezogene Bedürfnisse bestimmen vielfach die Arbeit. Wertschätzung sollte ihren normativen Bezugspunkt vor allem in der Fachlichkeit beruflich Pflegender haben. Entscheidend ist, die Beschäftigten, ihre Interessenvertretungen, Träger, Betriebe und Politik in einen Modernisierungsdialog zu bringen, sie auf gemeinsame Wege zu verständigen und konkrete Anregungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu geben, damit berufliche Pflege im Diskurs um die „Zukunft der Arbeit“ nicht abgehängt wird und Wege zu einer humanzentrierten Arbeitsgestaltung erfahrbar werden.


Michaela Evans, Dipl. Soz. Wiss., Projektgruppenleiterin „Arbeit und Qualifizierung“ am Institut Arbeit und Technik (IAT) der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen, Bocholt, Recklinghausen.


Christoph Bräutigam, Pflegewissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Arbeit und Technik (IAT) der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen, Bocholt, Recklinghausen.